Produktvielfalt gehört heutzutage zum Standard der meisten Unternehmen. Produkte aller Art werden von Kunden in den unterschiedlichsten Varianten nachgefragt. Was für Konsumenten von Vorteil ist, ist für Unternehmen jedoch in der Regel mit zusätzlicher Komplexität in der Produktion und folglich mit höheren Kosten verbunden. Die durch die Variantenvielfalt verursachten Kosten werden in der Praxis von Unternehmen oftmals nicht verursachungsgerecht einzelnen Produkten zugerechnet. Das führt zu einer Verfälschung der Herstellkosten und kann betriebswirtschaftlich falsche Entscheidungen der Unternehmensführung zur Folge haben. Die korrekte Berücksichtigung des Komplexitätseffektes ist vor diesem Hintergrund ein wichtiges Werkzeug jedes Betriebswirtes.
Die Definition des Komplexitätseffekts
Die Prozesskostenrechnung ermöglicht es dir, generell die Komplexität und besonders die Variantenvielfalt von Produkten als kostenbestimmenden Faktor verursachungsgerecht abzubilden. Vereinfacht gesagt bringt der Komplexitätseffekt zum Ausdruck, dass komplexe Produkte, die beispielsweise aus vielen Einzelteilen bestehen oder in vielen unterschiedlichen Arbeitsschritten gefertigt werden müssen, mit höheren Gemeinkosten belastet werden müssen als einfache Produkte, die nur aus wenigen Teilen bestehen oder in wenigen Arbeitsgängen gefertigt werden.
Die Herstellung komplexer Produktvarianten verursacht gegenüber der Produktion einfacher Varianten in der betriebswirtschaftlichen Praxis (deutlich) höhere Gemeinkosten. So sind komplexe Produktvarianten in der Regel mit höheren Kosten im Bereich der Materialdisposition, der Fertigungssteuerung und der Qualitätsprüfung verbunden.
Im Rahmen der einfachen Zuschlagskalkulation werden Produkte mit hoher Komplexität jedoch mit zu geringen Kosten belastet. Grund dafür ist, dass bei einer proportionalen Verrechnung der Gemeinkosten bei der Zuschlagskalkulation komplexe Produktvarianten generell zu preiswert kalkuliert werden. Andererseits werden Produkten mit niedriger Komplexität zu hohe Kosten „aufgebürdet“, weshalb sie in der Folge zu teuer angeboten werden. Dieser kostenrechnerische Fehler wird durch die Abbildung des Komplexitätseffektes im Rahmen einer prozessorientierten Kalkulation berichtigt.
Die Berechnung des Komplexitätseffekts
Für die Darstellung des Komplexitätseffektes gibt es keine einzelne Formel. Vielmehr muss die Darstellung der Berechnung ins Verhältnis zur Zuschlagskalkulation gesetzt werden, die in der betriebswirtschaftlichen Praxis von vielen Unternehmen angewendet wird. Das folgende Beispiel verdeutlicht dir die unterschiedliche Vorgehensweise bei der Anwendung der Zuschlagskalkulation und der Prozesskostenrechnung unter Berücksichtigung des Komplexitätseffektes.
Beispiel zum Komplexitätseffekt
Angenommen sei, dass ein Unternehmen die drei folgenden Produkte herstellt:
Produktvariante | Materialeinzelkosten | Produktionsmenge |
A | 50€ | 1.000 |
B | 25€ | 1.500 |
C | 10€ | 2.000 |
Die Gemeinkosten aller drei Produkte seien mit 200.000€ angenommen. Zudem sei angenommen, dass Produkt C doppelt so komplex in der Herstellung ist wie Produkt A und Produkt B.
Die Zuschlagskalkulation
In einem ersten Schritt berechnest du den Zuschlagssatz der Gemeinkosten. Diesen erhältst du durch die Division der Gemeinkosten durch alle Materialeinzelkosten:
ZSGK = Gemeinkosten / Alle Materialeinzelkosten
Im vorliegenden Beispiel errechnet sich somit ein Zuschlagssatz der Gemeinkosten von 216,22 Prozent.
ZSGK = 200.000 / (50 x 1.000 + 25 x 1.500 + 10 x 500) = 200.000 / 92.500 = 2,1622 = 216,22%
Die Herstellkosten der drei Produktvarianten erhältst du durch die Addition der Einzelkosten mit den auf Basis des Zuschlagssatzes errechneten Gemeinkosten.
Produktvariante | Einzelkosten | Gemeinkosten | Herstellkosten |
A | 50€ | 108,11€ | 158,11€ |
B | 25€ | 54,06€ | 79,06€ |
C | 10€ | 21,63€ | 31,63€ |
Die Prozesskostenrechnung
In der Prozesskostenrechnung kalkulierst du die Herstellkosten ein wenig anders. Bei diesem Ansatz berechnest du zuerst den sogenannten Prozesskostensatz. Dieser ergibt sich aus der Division der Gemeinkosten durch die Anzahl aller Prozesse:
PK-Satz = Gemeinkosten / Anzahl aller Prozesse
Da im vorliegenden Beispiel angenommen wurde, dass Produkt C doppelt so komplex ist wie die Produkte A und B, beträgt die Anzahl der Prozesse bei Produkt C nicht 2.000 sondern 4.000.
PK-Satz = 200.000 / (1.000 + 1.500 + 2 x 2.000) = 30,77€
Gemäß der Prozesskostenrechnung ergibt sich folgende Berechnung der Herstellkosten:
Produktvariante | Einzelkosten | Gemeinkosten | Herstellkosten |
A | 50€ | 30,77€ | 80,77€ |
B | 25€ | 30,77€ | 55,77€ |
C | 10€ | 61,54€ | 71,54€ |
Die Gemeinkosten bei Produkt C sind aufgrund der doppelten Komplexität auch zweimal so hoch wie bei Produkt A und Produkt B.
Der Unterschied zwischen der Zuschlagskalkulation und der Prozesskostenrechnung
Wie du bereits anhand der Zahlen erkannt hast, ergeben sich durch die Zuschlagskalkulation und die Prozesskostenrechnung ganz andere Gemeinkosten und folglich auch andere Herstellkosten. Der Unterschied zwischen den Ergebnissen der Zuschlagskalkulation und der Prozesskostenrechnung ist auf zwei Effekte zurückzuführen: Erstens auf eine unterschiedliche Verteilung (Allokation) der Gemeinkosten und zweitens auf den unterschiedlichen Produktionsaufwand (Komplexität) der einzelnen Produktvarianten.
In welcher Höhe die unterschiedlichen Herstellkosten der drei Produktvarianten auf den Allokationseffekt und auf den Komplexitätseffekt zurückzuführen sind, zeigt dir die folgende Tabelle:
Produktvariante | Herstellkosten nach Zuschlagskalkulation | Herstellkosten nach Prozesskostenrechnung | Differenz | Allokationseffekt | Komplexitätseffekt |
A | 158,11€ | 80,77€ | 77,34€ | 77,34€ | 0 |
B | 79,06€ | 55,77€ | 23,29€ | 23,29€ | 0 |
C | 31,63€ | 71,54€ | -39,91€ | -8,54€ | -30,77€ |
Der Unterschied zwischen den Herstellkosten gemäß Zuschlagskalkulation und Prozesskostenrechnung ist bei Produkt A und B ausschließlich dem Allokationseffekt zuzuschreiben. Beide Produkte weisen die gleiche Komplexität auf, weshalb der Komplexitätseffekt hier gleich Null ist. Anders verhält es sich bei Produkt C. Dieses ist doppelt so komplex in der Herstellung wie die beiden anderen Produkte, weshalb ein Großteil des Herstellkostenunterschieds auf das Konto des Komplexitätseffektes geht und nur ein kleinerer Anteil dem Allokationseffekt zuzuschreiben ist.
Interpretation des Komplexitätseffekts
Der Komplexitätseffekt spielt in der betriebswirtschaftlichen Praxis eine große Rolle. Viele Unternehmen produzieren Produkte in einer enorm großen Variantenvielfalt. Eines der prominentesten Beispiele sind in diesem Zusammenhang die Ausstattungsmöglichkeiten von Autos. Egal, ob Karosserieform, Lackfarbe oder Sitzbezugsstoff – die meisten Hersteller bieten ihren Kunden bei Dutzenden Ausstattungsdetails eine riesige Anzahl unterschiedlicher Auswahlmöglichkeiten.
Dass die Zahl der angebotenen Produktvarianten jedoch mit zusätzlichen Kosten verbunden ist, die bei der Berechnung der Herstellkosten berücksichtigt werden müssen, ist vielen Unternehmen zwar bewusst, wird jedoch in der Praxis oftmals ignoriert. Die Berechnung der Herstellkosten gemäß dem Komplexitätseffekt verdeutlicht, wie sich die Komplexität von Produktvarianten auf die Kosten niederschlägt.
In der Praxis hat der Komplexitätseffekt deshalb oftmals zur Folge, dass sich Unternehmen zu einer Bereinigung ihres Produktprogramms durch die Senkung der Variantenzahl entscheiden. Um beim vorherigen Beispiel zu bleiben: Zur Senkung der durch den Komplexitätseffekt verursachten Kosten entscheiden sich Automobilhersteller nicht selten dazu, bestimmte Produktvarianten mit hohen Komplexitätskosten aus dem Produktprogramm zu streichen. Dazu können zum Beispiel komplexe Karosserieformen wie Cabrios oder Coupés zählen.